Messmittel = Wer viel misst, misst viel Mist!
Dass ich keinem Kennzahlen-Kult fröne, habe ich durchaus schon häufiger durchblicken lassen. (s.u. Blogartikel vom 30.05.19 https://www.qualitaet-gestalten.de/2019/05/30/die-meisten-taetigkeiten-in-organisationen-verlaufen-linear-kausal-und-koennen-gut-als-prozess-aufgefasst-und-gesteuert-werden/…). Ich habe grundsätzlich nichts gegen Kennzahlen. Und natürlich habe ich nichts gegen naturwissenschaftliche Messungen und auch nichts gegen sorgfältige Messtechniken in Produktionsprozessen. Die DIN EN ISO 9001, die ihren Ursprung in der maschinengeprägten Industriebranche hat, wird aber nun mal nicht selten auch auf das Gesundheits- und Sozialwesen übertragen. Und bedauerlicherweise zählt auch hier in zunehmendem Ausmaß nur noch das, was gezählt werden kann. Was mich dabei massiv stört ist, dass diesen Zahlen Objektivität unterstellt wird, was meist mit einer Überbewertung einhergeht. Dabei fängt die Subjektivität schon beim Auswählen der Indikatoren an und setzt sich in sehr individuellen und rollen- bzw. kontextspezifischen Indikationen fort.
Als ich dann bei Reinhard K. Sprenger (Gut aufgestellt, Fußballstrategien für Manager) auf den Satz der Überschrift gestoßen bin: „Wer viel misst, misst viel Mist!“, habe ich geschmunzelt und mich über diese kurze und äußerst prägnante Kritik gefreut. Ich bin überzeugt, dass dem Kennzahlen-Hype einige irreführende Grundbedürfnisse und Grundannahmen zu Grunde liegen.
1. Die Sehnsucht nach Sicherheit und Richtigkeit: Harte Fakten suggerieren uns Steuerbarkeit und Neutralität.
Aber können Zahlen das leisten? Beim Schreiben dieses Blog erscheint die Eilmeldung auf dem Smartphone, dass dem RKI-Chef vorgeworfen wird, die Impfquote im Sinne der regierenden Parteien verzerrt zu haben. …
2. Der Wunsch, Komplexität zu vereinfachen: Zahlen verdichten Tatbestände. Aber ist das (immer) sinnvoll? Was sagt eine einzige Note als Abiturschnitt über die Kompetenzen eines Schülers aus? …
3. Das Verlangen nach Vergleichbarkeit. Durch Zahlen können Ergebnisse in eine Referenz zueinander gestellt werden.
Aber hat das eine Aussagekraft? Haben Sie mal ein Benchmarking-Projekt durchlaufen? Mir ist zumindest kein wirklich erfolgreiches bekannt. Der Vergleich, mit dem eigentlich nicht, aber dann doch irgendwie Vergleichbaren, soll ja inspirierende Entwicklungsimpulse freisetzen. Erlebt habe ich in der Regel aus dem Zusammenhang gerissene Auf- bzw. Abwertungsnummern. Und wenn die abgewerteten noch motiviert waren, fingen sie an, die Erfolgsstrategie der „Sieger“ in schöner linear-kausaler Manier in ihre Organisation zu übertragen. So nach dem Motto, wenn das im Silicon Valley funktioniert hat, muss es doch auch bei uns klappen. …
4. Die Überzeugung, dass viele Daten den Grad der Informiertheit steigern. Möglichst viele Fakten zusammentragen und Daten erheben, um den Überblick zu behalten. Aber funktioniert das wirklich? Ich kapituliere regelmäßig, wenn mal wieder im Raum steht, den Telefonanbieter zu wechseln. An Zahlen, Daten und Fakten mangelt es dabei wirklich nicht. Dennoch scheitere ich für gewöhnlich bei dem Versuch, wichtige Informationen für mich aus der Datenflut herauszufiltern. …
5. Das Ausblenden von zugrunde liegenden Annahmen und daraus folgende Mess- und Methodenfehler. Datenerhebungen werden in der Regel mit einer bestimmten Intention auf den Weg gebracht.
Aber dargestellt werden die Ergebnisse am Ende als neutral und objektiv. Sie alle kennen solche Beispiele aus der Lebensmittelwerbung – was ist da nicht alles nachweislich gesund für uns? Mich beschäftigt dieser Punkt gerade in einem Projekt. Wonach fragen wir die Teilnehmer? Schließlich wollen und müssen wir auch unsere Ergebnisse gut verkaufen. …
6. Die Unterstellung von Wertigkeit bei Vorhandensein gleichzeitiger Wertlosigkeit. In Berichten von Zertifizierungsaudits zur ISO 9001 lese ich es immer wieder: 85 % der erfassten Beschwerden wurden bearbeitet. Die Zielerreichungsquote liegt bei 92 %. Diese Zahlen sind das Papier nicht wert auf dem sie stehen. Was sagen Sie schon aus? Wie viele Beschwerden wurden erst gar nicht erfasst? Sind die wirklich wichtigen Themen bearbeitet worden, oder verstecken sich diese in den 15 % der nicht bearbeiteten Fälle? Wann wird eine Beschwerde überhaupt erfasst bzw. welche Themen landen auf dem Erfassungsbogen? …
Ich möchte mit einer kurzen Geschichte abschließen: Ein Lehrer betrat das Klassenzimmer, nahm zwei Äste, die er mitgebracht hatte und legte sie in Form einer „1“ auf den Boden. Dann fragt er seine Schüler: „Was seht Ihr hier?“ Diese antworteten: „Das ist doch klar, wir sehen die Zahl „1“. Der Lehrer erwiderte: „Was wirklich vor Euch liegt, sind zwei abgebrochene Äste eines Baumes. Die Zahl „1“ ist nur eine Bedeutung, die ihr diesen zwei Ästen gebt.“
Jede Wahrnehmung ist an eine Perspektive gebunden. Menschliches Leben ist und bleibt mehrdeutig, komplex und unsicher. Das können auch Zahlen nicht ändern. Aber nicht die Zahlen an sich sind das Problem, sondern unser Umgang damit. Wählen Sie gezielt einige wenige, aber bedeutungsvolle aus und nutzen Sie sie vor allem für eines:
Zum Stellen guter Fragen!