Die meisten Tätigkeiten in Organisationen verlaufen linear-kausal und können gut als Prozess aufgefasst und gesteuert werden

Die meisten Tätigkeiten in Organisationen verlaufen linear-kausal und können gut als Prozess aufgefasst und gesteuert werden

Diesen Satz, der an die entsprechende Prozess-Definition der ISO 9000:2015 angelehnt ist, habe ich leider über 15 Jahre nicht wirklich in Frage gestellt.
Zum einen bin ich in diese „QM-Denke“ von Anfang an hereingewachsen, zum anderen mag ich es, wenn ich klare Ursache-Wirkungsbezüge erkenne. Dies vermittelt mir das Gefühl, die Dinge verstanden zu haben und beeinflussen zu können.
Aufgerüttelt hat mich vor einigen Jahren die „duale Prozessbetrachtung“ von Gerhard Wohland und Matthias Wiemeyer in ihrem empfehlenswerten Buch „Denkwerkzeuge der Höchstleister“. Sie unterscheiden Prozesse mit einer niedrigen Dynamik und vielen linear-kausalen Ursachen-Wirkungsbeziehungen von Prozessen mit einer hohen Dynamik und damit vielen Wechselwirkungen und überraschenden Ergebnissen. Erst vor ein paar Wochen habe ich im Rahmen meiner eigenen Weiterbildung (Systemische Organisationsentwicklung und Changemanagement am isb in Wiesloch) das Cynefin Modell von Dave Snowden kennengelernt, das im Grunde vier Arten von Systemen bzw. Prozessen unterscheidet:

  • Einfache Prozesse mit bekannten Ursache-Wirkungsbeziehungen
    wie z.B. der Zusammenbau eines Fahrrades
  • Komplizierte Prozesse mit teilweise unübersichtlichen Elementen und Beziehungen
    wie die Funktionsweise eines Flugzeuges
  • Komplexe Prozesse mit einer hohen Eigendynamik und geringer Vorhersehbarkeit
    wie charakteristisch für lebendige Systeme (Lebewesen, Organisationen)
  • Chaotische Prozesse mit kaum erkennbaren Mustern und hoher Turbulenz
    wie das Feuer oder die Weltwirtschaft

Einfache und komplizierte Prozesse, im Gesundheits- und Sozialwesen sind z.B. Dienstplanungen, Beschaffungsprozesse oder die Verabreichung von Medikamenten. Sie können sehr gut mit den klassischen Instrumenten des Qualitätsmanagement geplant und gesteuert werden. Viele Prozesse der sozialen Arbeit sind allerdings ausgesprochen komplex, da der Faktor Mensch sich nun mal durch ein hohes Maß an Eigendynamik und Unvorhersehbarkeit auszeichnet. Jeder Beratungsprozess ist völlig anders. Bildungsprozesse können zwar strukturiert werden, ob, wann und wie die Teilnehmer aber in ihren individuellen Lernprozess einsteigen, kann keine Bildungseinrichtung planen und steuern. Häufig wird versucht, diese komplexen Prozesse mit den gleichen Instrumenten „in den Griff“ zu bekommen wie einfache und komplizierte Prozesse. Das, was dabei dann heraus kommt, ist leider nicht selten entweder ein überbordender Formalismus oder das Festhalten an der Illusion, dass Komplexität durch Standards beherrschbar wird. Eine gute Förderplanung unterstützt ohne Frage den Rehabilitationsprozess der Teilnehmer einer Maßnahme zur Arbeitsförderung. Aber eine Perfektion der Förderplanung hat trotzdem unter Umständen kaum Einfluss auf den Erfolg eines individuellen Reha-Verlaufs.
Ich persönlich halte eine differenzierte Betrachtung und Behandlung von komplexen und komplizierten Prozessen für absolut entscheidend, um Qualitätsmanagement schlank zu gestalten und nachhaltig erfolgreich umzusetzen. Während eher komplizierte Prozesse sehr gut mit Standards und Kennzahlen reguliert werden können, kommt es bei zunehmender Dynamik und Komplexität vor allem darauf an, in die Kompetenz der Mitarbeiter und in die Entfaltung ihrer Potentiale zu investieren. Es gibt bei diesen Prozessen nicht den einen richtigen Weg, es bedarf der Mitarbeiter, die in der Lage sind, in einer unvorhersehbaren Zukunft professionell zu agieren. Dabei können ausgewählte Grundsätze und handlungsleitende Prinzipien sehr hilfreich sein, es macht aber keinen Sinn, alle denkbar möglichen Eventualitäten zu beschreiben und in eine gewünschte aber oft nicht realisierbare Reihenfolge zu bringen. Eine differenzierte Betrachtung und Beachtung des Charakters eines Prozesses ist der zentrale Ansatzpunkt für ein sinnstiftendes und auf das Wesentliche begrenzte interne Regelwerk.

Das Cynefin wird u.a. auf dieser Web-Site (http://www.wandelweb.de/blog/?p=962) sehr anschaulich beschrieben.
Empfehlen kann ich auch das Erklär-Video von system worx (https://blogs.system-worx.de/2016/04/15/cynefin-framework/).
Auf meiner Homepage http://www.elisabet-trubel.de finden Sie ein Arbeitspapier dazu.

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