Auf Unsicherheiten können wir uns in Zukunft verlassen

Auf Unsicherheiten können wir uns in Zukunft verlassen

„Sicherheit, Orientierung und Kontrolle“ gehören zu den vier psychischen Grundbedürfnissen des Menschen (Grawe 2004, S. 185). Die anderen Bedürfnisse, um die es heute nicht weiter gehen soll, sind im Übrigen „Bindung“, „Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung“, sowie „Lustgewinn und Unlustvermeidung“. Sicherheit, Orientierung und Kontrolle sind aber auch die zentralen Ziele eines jeden QM-Systems. Dass trotzdem nicht alle Menschen auf QM „abfahren“, hat möglicherweise mit dem fehlenden Lustgewinn zu tun, aber auch darüber möchte ich heute nicht schreiben.

Auseinandersetzen möchte ich mich mit unserer Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und Unsicherheit zu ertragen. Die Psychologie nennt dies übrigens Ambiguitätstoleranz. Die Ungewissheit ist ein ständiger Begleiter unseres beruflichen und sozialen Lebens. Gerade die aktuellen Zeiten verdeutlichen uns, dass niemand abschätzen und mit Sicherheit vorhersagen kann, wie sich die Welt in den nächsten Wochen und Monaten verändern wird. Das war im Grunde auch schon vor Corona so, der Virus hat es uns allen aber noch mal sehr deutlich vor Augen geführt.

Wir haben uns an einen ungeheuren Wohlstand und aufstrebende wirtschaftliche und technologische Entwicklungen gewöhnt. Entwicklungsgeschichtlich gesehen eine Zeit mit ausgesprochen geringen Gefahren für unser Sicherheits- und Orientierungsbedürfnis. Da wir keinen Krieg erlebt haben, ist es für uns normal, dass es (bei uns) keinen solchen gibt. Da die meisten von uns keine wirtschaftliche Not fürchten mussten ist es normal, dass es diese hier auch nicht gibt. Mit der größten Überzeugung erklären wir im Alltag Dinge für normal oder unnormal. Aber, was heißt eigentlich Normalität? Ist normal einfach nur das, was wir gewohnt sind? Und welchen Betrachtungszeitraum wählen wir dann? Unser eigenes Leben? Das aktuelle Jahrhundert? Die gesamte Menschheitsgeschichte? Normalität in mechanischen Systemen ist vielleicht noch definierbar, aber was ist mit komplexen Systemen wie Organisationen und gesellschaftlichen Systemen? Dass sich unser Verständnis von Normalität immer wieder verändert sieht man schon allein, wenn man die modischen Trends der 80iger Jahre mit den heutigen vergleicht.

Ich höre zur Zeit immer wieder den Satz: Wenn wir erstmal zurück in der Normalität sind … . Vielleicht gelingt es uns viel leichter mit den Herausforderungen zu arrangieren, wenn wir weniger an der gewohnten und liebgewonnenen Normalität festhalten und nicht so tun, als hätten wir einen Anspruch darauf? Normalität bezieht sich auf Durchschnittsberechnungen der Vergangenheit, mit Hilfe von QM-Maßnahmen tun wir alles Mögliche dafür, um diesen Status quo zu halten. Das ist sicherlich auch grundsätzlich nicht falsch. Wenn wir uns aber ausschließlich mit dem Bewahren beschäftigen, entwickeln wir zum einen übersteigerte Ängste gegenüber allem Neuen und „Unnormalen“ und zum anderen verkümmern unsere Kompetenzen und Bewältigungsstrategien, über die wir alle im Umgang mit Veränderungen verfügen: Fähigkeiten wie Interesse, Neugierde und Gestaltungskräfte, die neue Visionen entstehen lassen können. Corona hat unsere Alltagsnormalität außer Kraft gesetzt, vielleicht können wir diesen System-Reset auch nutzen für einen Neustart in eine nachhaltig erfolgreiche, potentialorientierte Qualitätsentwicklung? Ein System-Reset ist vielleicht bedrohlich, er kann aber auch ungeheure Kräfte für die Arbeit an einer neuen besseren Zukunft freisetzen.

Die Welt des linear-kausalen tradierten Qualitätsmanagements hat sich schon lange verändert. Vielleicht kann einer Phase der Unsicherheit auch für eine positive Umformung genutzt werden? Könnten wir dafür die passenden Rahmenbedingungen schaffen? Sehnen wir uns wirklich so sehr und ausschließlich nach der alten Normalität oder ist uns diese nicht auch selbst schon manchmal zu sicher bzw. zu starr geworden? Wäre es nicht reizvoll, Dinge mal ganz anders zu tun?

Wichtig: Wenn ich hier vom Experimentieren mit Unsicherheit spreche, klammere ich essenzielle Unsicherheiten aus. Eine gesicherte wirtschaftliche Existenz ist vermutlich die Grundlage für gedankliche Freiheit. Aber auch da holt uns die Frage des Normalitätsanspruchs wieder ein … was brauchen wir normalerweise zum Leben?

Zurück zum Anfang: Sicherheit, Orientierung und Kontrolle gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Wie viel wir an Sicherheit, Orientierung und Kontrolle benötigen, ist abhängig von unserem sehr subjektiv geprägten Verständnis von Normalität. Die Verharrung darauf lenkt die Aufmerksamkeit in die Vergangenheit und vermindert Energien für kraftvolle positive Gegenwarts- und Zukunftsgestaltungen.

Auf Unsicherheiten können wir uns in Zukunft verlassen, das ist übrigens ein Zitat von Fred Ammon. Wir glauben, dass die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten und Kontrolle abzugeben für eine nachhaltig erfolgreiche Qualitätsentwicklung entscheidend ist. Und diese Fähigkeit ist nicht einfach da oder eben nicht da, sie lässt sich trainieren – es lohnt sich.
In diesem Zusammenhang möchte ich zwei lesenswerte Artikel empfehlen:

https://www.zeit.de/2013/20/normalitaet-normen-und-grenzen
https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/

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