Existiert etwas Unnormaleres als die Norm?

Existiert etwas Unnormaleres als die Norm?

Der heutige Titel entspricht einem Zitat von Martin Gerhard Reisenberg, Bibliothekar und Autor. Es gibt vieles, was mich in der aktuellen Zeit verwundert, aber eines ganz besonders: Der allgegenwärtige Wunsch nach Einheitlichkeit und gleichen Standards. In einem Bundesland hat der Möbelmarkt geöffnet, in dem anderen nicht – verwirrend. In einer Stadt gibt es schon seit Wochen eine Maskenpflicht, außerhalb der Stadtgrenzen gilt dies nicht – irritierend. Einige Regionen sind mehr oder weniger abgeriegelt, einige nicht – unmöglich. Je nach Arbeitsort und Firmensitz werden unkompliziert finanzielle Hilfen zur Verfügung gestellt, oder eben nicht – ungerecht. In einem Supermarkt werden die Einkaufwagen desinfiziert, in dem anderen nicht – schwer verstehbar. Mancherorts sind Zusammenkünfte bis max. 10. Personen erlaubt, woanders nicht – unüberschaubar. In den Baumarkt darf man gehen, auf den Spielplatz nicht – unfair.
Vermutlich werden Sie keine Probleme haben diese Liste fortzuführen. Seit mehr als 25 Jahren beschäftige ich mich nun mit dem Thema Qualitätsmanagement. Bisher bin ich was das Thema Standardisierung angeht immer mehr oder weniger auf zwei Lager gestoßen: Die eine, kleinere, Gruppe der Ordnungsliebhaber, die gerne möglichst viel normieren und standardisieren möchte und die bislang deutlich größere Gruppe, die eine recht große Aversion dagegen gehegt hat, die sich eingeengt und bevormundet fühlt. Pädagogische Arbeit standardisieren? Unmöglich! Personalführungsprozesse schematisieren? Menschen werden zu Objekten degradiert! QM-Regeln unternehmensweit zentralisieren? Bevormundung! Qualitätszirkel erarbeiten einheitliche Regelungen für die Mitarbeitenden? Entmündigung! Alle bekommen die gleiche Glückwünschkarte zum Geburtstag? Verlust an Individualität! Einheitliche Gestaltungsvorlagen für Dokumente? Verlust an Kreativität! Standardisierte Begrüßungsformel am Telefon? Gleichmacherei! Auch diese Liste könnten Sie vermutlich ergänzen.
Ich persönlich gehöre ja zu der Gruppe der Ordnungslieber und ich gebe gerne zu, dass ich lange gebraucht habe, zu verstehen, dass Ordnung die Welt genauso bedroht wie Unordnung (nach einem Zitat von Paul Valéry) und dass ich komplexe und linear-kausale Systeme nicht gleich behandeln kann. Geahnt habe ich dies glaube ich schon recht lange, aber mir haben die Argumente dafür gefehlt. Dieser Blog hilft mir und ich hoffe Ihnen auch ein wenig, Gründe dafür zusammenzutragen, zu reflektieren, weiterzuentwickeln und in ein neues, potentialorientiertes Konzept zu überführen.
Unsicherheit aushalten ist eines der Prinzipien, die wir den Flügelflächen des Schmetterlings zugeordnet haben. Das Leben ist von sich aus wunderschön, aber eben auch verwirrend, irritierend, unmöglich, ungerecht, schwer verstehbar, unüberschaubar und unfair. Natürlich ist es nicht falsch, um Klarheit und Gerechtigkeit bemüht zu sein. Aber die Klarheit und die Gerechtigkeit als Zustandsbeschreibung kann es niemals geben – das Leben lässt sich nicht normen.
Es geht um eine gute Balance und dazu gehört die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten und mit Unregelmäßigkeiten umzugehen. Genau diese Unregelmäßigkeiten brauchen wir, wenn wir Eigenverantwortlichkeit, Kreativität und Individualität leben und fördern wollen. Das betrifft organisationsinterne Regeln genauso wie alltagspraktisch. Ja es ist unübersichtlich, dass in einem Bundesland der Möbelmarkt geöffnet haben darf und im andern nicht. Aber ist das schlimm? Aus der Perspektive der Inhaber und der Beschäftigten, denen die Einnahmen fehlen, weil sie nicht öffnen dürfen bestimmt, aber aus der Kundenperspektive? Unüberschaubarkeit ist der Preis für Individualität und Flexibilität. Bislang wollten wir in Deutschland kein zentralistisches System, aber natürlich hat dies auch seinen Preis! Wir sollten uns dies immer mal wieder bewusst machen, wenn wir über das aktuelle Chaos der Unterschiedlichkeit stöhnen. Von Viktor Frankl stammt folgendes Zitat: Je geformter eine Maschine ist, umso besser ist sie, je genormter jedoch der Mensch – je mehr er einer Durschnittnorm entspricht, um so abtrünniger ist er der ethischen Norm.
Normen helfen uns, ich bin froh darüber, dass es genormte Papierformate etc. gibt und vielleicht brauchen wir an der ein oder anderen Stelle auch noch mehr Normen. Aber jede Norm sollte immer wieder hinterfragt werden und vor allem sollten nicht wir nach der Durchnormierung unseres Alltags schreien, sondern der ein oder anderen Unübersichtlichkeit mit Gelassenheit und Humor begegnen.

2 Kommentare
  • Iris Hacker-Maack
    Antworten

    Dieser Beitrag ist so gut auf den Punkt gebracht!!! Ich finde mich darin wieder!

    8. Juni 2020 at 9:15
  • Melanie Hindermann
    Antworten

    Diesen Blog-Beitrag fand ich großartig. Spricht er mich doch in meinem Innersten an. Danke!

    19. Mai 2020 at 12:32

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