Wissen – gesicherte Informationen oder einfach nur Meinungen?

Wissen – gesicherte Informationen oder einfach nur Meinungen?

Für einen Schulungstag zur ISO 9001 habe ich mich mal wieder intensiv mit dem Begriff „Wissen“ auseinandergesetzt.
Die ISO fordert ja, dass das spezifische Wissen der Organisation (u.a. Erfahrungs- und Prozesswissen, das die Organisation ausmacht), ermittelt, vermittelt und geschützt werden soll. Da die 9000er Norm mir keine Definition anbietet, fällt mir als erstes die Erläuterung bei Wikipedia auf: „Als Wissen wird üblicherweise ein für Personen oder Gruppen verfügbarer Bestand von Fakten, Theorien und Regeln verstanden, die sich durch den höchstmöglichen Grad an Gewissheit auszeichnen, so dass von ihrer Gültigkeit bzw. Wahrheit ausgegangen wird“. Im Gabler Wirtschaftslexikon heißt es: „Die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen. Wissen basiert auf Daten und Informationen und ist im Gegensatz zu diesen an Personen gebunden“. Und als Drittes habe ich dann noch mein kleines Lieblingsbuch von Gerhard Wohland (Denkwerkzeuge der Höchstleister) aufgeschlagen. Dort heißt es: „Wissen sind Aussagen, denen niemand widerspricht. Dort wo widersprochen wird, endet die Reichweite von Wissen. Es wandelt sich zur Meinung.“
Dieser Satz lässt mich nicht los. Wie ist eigentlich das Zusammenspiel von Wissen und Wahrheit, das ja auch in der ersten Wikepedia -Definition eine Rolle spielt, die einem landläufigen Verständnis von Wissen wohl recht nahekommt. Wer das Wissen hat, weiß Bescheid und kann richtig handeln. Wir haben am Wochenende ein neues Brettspiel gespielt. Mein Mann hat sich dankenswerter Weise die lange Spielanleitung durchgelesen und dieses Wissen freundlicherweise an den Rest der Familie weitergegeben, so dass wir in der Lage waren, das Spiel zu starten. Nach ein paar Spielzügen gab es erste Konflikte. Könnte es sein, dass mein Mann die Spielanleitung falsch verstanden hat? Mein Sohn liest nach und kommt zu anderen Schlussfolgerungen. Schließlich lesen wir alle. Der Wissensvorsprung meines Mannes und die Sicherheit, alles richtig zu machen, ist dahin. Wir diskutieren die Meinungen aus, finden eine Lösung und spielen fröhlich weiter.
Hat Gerhard Wohland also recht: Wissen endet dort, wo widersprochen wird und wandelt sich in Meinung? Wir wissen inzwischen, dass die Welt keine Scheibe mehr ist, wir wissen, wie man Autos baut und Handys bedient. Das vorhandene Wissen hierzu gilt als gesichert. Aber wie ist es z.B. mit Corona? Meines Erachtens wissen wir hier noch immer viel zu wenig. Probleme entstehen, wenn unterschiedlichen Gruppierungen ihre ausgewählten Daten und Fakten mit Wahrheit aufladen, als gesichertes Wissen manifestieren und die Andersdenkenden zu Unwissenden degradieren.
Wenn ich mir vergegenwärtige, dass das meiste, was wir mit Sicherheit wissen, nie unbestreitbar richtig ist, dass es immer eine andere oder völlig neue Perspektive gibt oder geben kann, dann macht mich das erstmal sehr demütig.
Dann wandelt sich Wissen in Glauben und verliert damit seine objektiv richtige Begründung. Ich glaube, dass es die ein oder andere Diskussion entschärfen könnte, wenn auf das Beharren der einzig richtigen Wahrheit verzichtet werden würde.
Aber zurück zum organisationalen Kontext. Hier passt mir die Definition von Gabler am besten: Es geht um die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Personen zum Lösen von Problemen einsetzen. Und dieses Wissen soll in der Organisation ermittelt, vermittelt und geschützt werden. Das ist verständlich und sinnvoll. Wenn wir ohne den Wahrheitsanspruch interagieren, dann heißt das natürlich auch, dass dieses Wissen jederzeit veränderbar ist bzw. sogar sein muss. Wissensmanagement ist etwas, was vor allem in stabilen, eher von kausalen Zusammenhängen geprägten Kontexten funktioniert. Je höher die Dynamik und Komplexität, desto weniger lassen sich anstehende Probleme mit dem Wissen lösen. Es bedarf Kompetenz. Wissen bezieht sich immer auf Erfahrungen aus der Vergangenheit. Je neuer oder andersartiger die Probleme und je schneller darauf reagiert werden muss, desto weniger hilft Wissen. Kompetenz verbindet Wissen mit Können. Kompetenz kann nicht durch Bücher oder Prozessbeschreibungen an andere übertragen werden. Jeder muss sie selbst durch die Verbindung von Übung und Talent herstellen.
Nichtsdestotrotz ist Wissen weiterhin unbestreitbar wichtig, aber die Zeiten, in denen es vor allem auf Wissen ankam, sind sicherlich vorbei. Die Arbeitsprozesse des Gesundheits- und Sozialwesens waren schon immer komplex, dynamisch und mehrdeutig. Zugenommen hat aber auch hier in den letzten Jahren das Tempo, mit dem sich Anforderungen und Rahmenbedingungen verändern. Daher sollte zum einen Wissen immer im Zusammenhang mit Kompetenz reflektiert werden und zum anderen sollte keineswegs der Versuch unternommen werden, all das informelle Wissen was durch die Organisation wabert, in formelle Strukturen sprich Prozessbeschreibungen und QM-Handbücher zu gießen. Gerade angefangen und schon wieder alt. Der Zusammenhang von Wissen und Kompetenz wird sehr schön in der Wissenstreppe von North verdeutlicht. Reine Daten liegen dabei auf der untersten Stufe. Nur dadurch, dass wir ihnen eine Bedeutung geben, entstehen daraus Informationen, und wenn wir diese miteinander vernetzen generieren wir Wissen. Dieses kann aber nur selten einen objektiven Wahrheitsanspruch erfüllen, sondern beansprucht seine Gültigkeit in einem begrenzten Kommunikationsraum, z.B. im Rahmen einer Organisation.

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