Duale Prozessbetrachtung

Duale Prozessbetrachtung

Haben Sie schon mal erfolgreiche Fußballspieler gesehen, die mit einem 500 Seiten Regelwerk unter dem Arm über den Rasen rasen und dann hin und wieder stehen bleiben, um in dem Buch der Bücher die richtigen Spielzüge nachzuschlagen? Oder einen Trainer, der mit seiner Mannschaft im Vorfeld die Spielzüge für das perfekte Spiel plant, alle darauf verpflichtet und Regel- und Plantreue einfordert? Oder was halten Sie unter Effektivitätsgesichtspunkten davon, dass ein Lego-Fan die Bauanleitung von einem 4000 Teile Modell ins Altpapier befördert und sich dafür ganz intuitiv ans Werk macht und schlicht auf seine Erfahrung vertraut?

Vielleicht haben Sie geschmunzelt, weil Sie diese Szenen genauso dämlich finden wie ich. Aber ich behaupte, dass wir genau das im QM immer wieder tun: Wir behandeln Prozesse, die einen völlig unterschiedlichen Charakter haben mit ein und derselben Logik. Dabei bedienen wir uns leider vorzugsweise und manchmal ausschließlich der Logik der Linear-Kausalität, der Vorhersehbarkeit und Planbarkeit, die wir, weil unser Gehirn sie so sehr liebt, einfach jedem Ablauf unterstellen. Vielleicht protestieren Sie jetzt und bringen gedanklich ein Beispiel, wie das eines Sozialarbeiters, der im Jugendtreff ja auch nicht neben den Teens im QM-Handbuch schmökert. Gott sei Dank. Diese Arbeit lässt sich einfach nicht im gleichen Sinne standardisieren wie ein Verwaltungsvorgang. Versuchen tun wir es aber trotzdem. Ich selbst habe leider Jahre gebraucht, bis ich dies wirklich begriffen habe. Die Schlüsselerkenntnis dazu hat mir das Buch von Gerhard Wohland und Matthias Wiemeyer „Denkwerkzeuge der Höchstleister“ gegeben, aber auch das Cynefin-Modell von Dave Snowden, über das ich auch schon mal geschrieben habe, hilft bei diesem entscheidenden Mind-Set-Wandel. In meiner Schulungs- und Beratungspraxis sehe ich es immer wieder: detaillierte und formalistische Regelungen und Prozessbeschreibungen, die die Kriterien der ISO 9001 abarbeiten, und damit einen ausgesprochen lebendigen, dynamischen Prozess mit unendlich vielen Wechselwirkungen in eine starre, logisch kausale Form zwingen. Nicht, dass diese Prozesse völlig frei von Logik und Kausalität wären, in der Regel gibt es auch hier einen roten Faden als Leitschnur für ein zielführendes Vorgehen. Aber diese Leitschnur muss, um der Aufgabenstellung zu dienen, flexibel sein. Prozesse, die von Dynamik, Wechselwirkungen und Überraschungen geprägt sind, werden durch die Kompetenzen von Mitarbeitern gesteuert, die in der Lage sind professionell mit Unvorhersehbarkeit umzugehen. Diese Prozesse gewinnen nicht durch detaillierte formale Regeln, sie brauchen wenige, aber überzeugende handlungsleitende Prinzipien. Die ausführenden Mitarbeiter brauchen regelmäßige Rückkopplungsschleifen im Team, um ihr Tun zu reflektieren und erforderliche Abstimmungen gemeinsam zu treffen. Den einen perfekten Weg der Durchführung gibt es hier genauso wenig wie ein stupides Abgleichen von Kennzahlen Sinn macht. Diese Prozesse erfordern Flexibilität auf allen Ebenen, das ist in ihrem Charakter begründet und hat nichts mit mangelndem Bemühen zur Strukturierung zu tun. Beratungsprozesse sind genauso wenig vorhersehbar und im Detail planbar wie ein Fußballspiel. Aber gute Rahmenbedingungen, gemeinsame Prinzipien und Teamgeist können, den Spielverlauf entscheidend beeinflussen.
Ich widme diesem Thema nun schon den dritten Blogbeitrag und es gehört für mich zwingend in die kleine Serie zu den Schlüsselgedanken im Qualitätsmanagement, mit der ich dieses Jahr begonnen habe.

  1. Drei Leitfragen (Beitrag vom 5.01.21)
  2. Ganzheitliches QM-Verständnis – AQAL (Beitrag vom 19.01.21)
  3. Duale Prozessbetrachtung (Aktueller Beitrag)

Und die für ein nachhaltig erfolgreiches Qualitätsmanagement von immenser Bedeutung sind, aber nur selten konsequent beachtet werden.
Viel zu oft werden alle Prozesse, egal welcher Art, mit der gleichen Logik strukturiert, differenziert, reglementiert und im Detail evaluiert. Ich halte dies für einen ganz zentralen Fehler im Qualitätsmanagement, der zu formalen Strukturen führt, die „im günstigsten Fall“ nur von den Mitarbeitern ignoriert werden, im schlechtesten Fall zu einer Standardisierung des Kunden (Klienten, Patienten, ..) führen, der dann eben auch die Standardbehandlung erfährt. Kennen Sie die Bilder/Bücher von Ursus Wehrli „Die Kunst, aufzuräumen“? Darin bildet er z.B. einen üblichen Sandkasten mit überall verstreutem Spielzeug ab und einen aufgeräumten mit farblich sortierten Schaufeln und Eimern. Mein Fazit: Wenn wir es mit der Defragmentierung und Formalisierung übertreiben, verhindern wir das Spiel, schaffen Nebenschauplätze und verlieren an Glaubwürdigkeit.

https://www.qualitaet-gestalten.de/2019/05/30/die-meisten-taetigkeiten-in-organisationen-verlaufen-linear-kausal-und-koennen-gut-als-prozess-aufgefasst-und-gesteuert-werden/

https://www.qualitaet-gestalten.de/2020/09/08/die-grundsaetze-der-iso-9001-potentialorientiert-weiter-gedacht-teil-5-prozessorientierter-ansatz-prozesscharakter-beruecksichtigen/

 

4 Kommentare
  • Dr. Wolfram Limper
    Antworten

    Für mich ist die Flexibilität, also auf der Basis der aktuellen Situation und meiner Erfahrung das aktuell Richtige zu tun, entscheidend für den Qualitätsgedanken. Und das sollte sich auch in den vielfältigen Werkzeugen widerspiegeln, mit denen in Unternehmen versucht wird, Qualität zu steuern.

    In diesem Sinne hat mich der schöne Beitrag sehr inspiriert, Danke dafür!

    4. Februar 2021 at 7:45
  • Birgitta Ossege
    Antworten

    Ich habe mir die genannten Beispiele wirklich mal gedanklich vorgestellt, ich musste lauthals lachen.
    Herzlichen Dank für diesen bildlich schön beschrieben und gut nachvollziehbaren Beitrag!

    3. Februar 2021 at 16:31

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